Das Schloss in der Sünfte Fortsetzung

von Leo Weismantel im Jahre 1964
Schloss in der Sünfte - Denkmal am Rastplatz Obersinn Richtung Jossa
Inschrift (Bild: Sören Winkler)

Es war da noch eine andere Quelle, aus der die Welt der Sagen, vornehmlich auch die Sage vom Schloss in der Sünfte mir zufloss. In der nachnapoleonischen Zeit begann die Abholzung der Rhön, in den Wäldern wurden die uralten Bäume geschlagen und auf der Hochstraße auf eigens hierzu gezimmerten Wagen wurden die Riesenstämme nach Gemünden an den Main gebracht, von dort in riesigen Flößen zum Rhein den Rhein abwärts nach Amsterdam geschleust. „Holländer“ nannte man diese Stämme, aus denen dann in Holland Schiffe gebaut wurden.

Dann wurden auch die Wälder im Sumpfgelände des Sinntales geschlagen, die Sümpfe trockneten aus, es entstand das Wiesental, wie es heute zu sehen ist. Nur hie und da an einer Mühle hafteten die alten spukhaften Sagen. Jetzt erst wurde eine Straße durch das Tal gezogen. Während der Kriege 1866 und 1870/71 näherte sich das große Projekt eines Baus einer Eisenbahn von München nach Hamburg. Das ganze Bild des Tales und der Berge veränderte sich, die kalten Winter verschwanden, die Sommer brachten eine Bruthitze in das Tal, die letzten Sümpfe verschwanden.

Mein Vater, in seiner Jugend ein Schneider, meine Mutter eine Näherin, beide Kinder von Weber, nutzten den Wandel der Zeit in kühnen Unternehmungen, sich der Welt des Hungers, die vorher im Tale regiert hatte, zu entziehen. Sie begannen mit der Gründung einer Schneiderwerkstätte mit immer mehr Gesellen, sie fügten eine Schenke an, die sich zum „Gasthaus zur Krone“ auswuchs, einen Kolonialwarenladen, eine Metzgerei, der Vater kaufte einem verarmten Baron Kutsche und Pferde ab und durchfuhr das Land, kaufte die Ernten der Bauern auf und lieferte sie in Städte, als ich ein Kind war, war sein Handel so groß geworden, dass er sich über ganz Deutschland erstreckte, dass er Militärregimenter und selbst das alljährliche Kaisermanöver belieferte. In den Gastzimmern der „Krone“ hockten zu bestimmten Stunden des Tages die letzten der Alten, die Zeugen einer untergehenden Welt.

So um zehn Uhr des Morgens oder um vier Uhr des Nachmittags kamen bald der, bald jener dieser Alten und trank für drei Pfennige ein Schnäpschen, ich kauerte oft als einziger „Unterhalter“ auf einer Bank nahe dem Tisch, an dem der Gast einsam und gelangweilt saß. Mir und einer Katze erzählten diese Gäste die letzten Geheimnisse der Alten. So konnte ich dies Erbe alter Sagen und Geschichten der Zukunft überliefern.

Da war der „Lurzeschreiner“, der den Toten die Särge machte, das letzte Haus auf Erden. Sooft er einen Sarg baute, kam er zwischendurch in dies Gastzimmer der Wirtschaft meines Vaters, von dieser Arbeit etwas auszuruhen. Dann erzählte er mir von dem, der eben gestorben war. Er wusste von jedem Toten, wo er jetzt sei im Gericht, im Himmel, im Fegefeuer, manche auch hatte eben der Teufel in die Hölle geholt! Der „Lurzeschreiner“ erzählte mir das und wusste mir ganz genau zu schildern, wie es jetzt zu eben dieser Stunde in Himmel, Fegefeuer, Hölle bei der Aufnahme des Toten zuging.

Ging der „Lureschreiner“ fort, den Sarg des Toten zu Ende zu zimmern, kam der „Henkels Philipp“. Wo eine Hausschlachtung vorgenommen wurde, war er da, er stach die Schweine und machte Würste. Er kam gern in der Dämmerung der Abende und zeigte mir die Sterne des Himmels. Er war ein großer Zweifler, er traute den Predigten des Parrherrn nicht und mahnte mich, ich möge mich von meinem Vater, wenn ich älter werde, auf die Hohe Schule schicken lassen und die Wahrheit ergründen und dann ihn, den „Henkels Philipp“ aufsuchen und ihm sagen, ob es wirklich einen Gott gäbe, Engel und Teufel, und Himmel und Hölle oder ob auf diesen fernen Sternen auch Wesen wie die Menschen lebten.

Oder es kam der „Räuberhauptmann“, ein gütiger Mann mit weißem Bart, er hatte als Räuberhauptmann der alten Rhön versucht, die Reichen auszuplündern, die Armen zu beschützen, er war grad noch am Galgen vorbeigekommen, jetzt ging er mit einer Körze mit irdenem Geschirr, Schüsseln und Töpfen und Rührlöffeln durch die Dörfer. Kam er zu mir, hatte er kleines irdenes Geschirr, einen töpfernen Hahn, der krähte, oder er blies, wenn er mir die märchenhaftesten Geschichten erzählt hatte, schwermütige Lieder auf einer Okarina, die er aus der Hosentasche zog.

Es waren noch andere da, einer von ihnen, ich weiß nicht welcher erzählte mir eines Tages ein erschreckliches Abenteuer, das er in der letzter Nacht zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens in der „Sünfte“ gehabt habe, bei dem See, auf dessen Grund das verwunschene Schloss der drei sündhaften Jungfrauen ruhte, die das Brot geschändet und die Hungernden verhöhnt hatten. Der alte Mann war seiner Geschäfte wegen gegen Osten weit gewandert und es ergab sich so, dass er auf dem Heimweg am See in der Sünfte vorüber kam.

Da, er war schon am Teich vorüber, schlug es vom Kirchturm von Obersinn her gerade Mitternacht, da hörte der nächtliche Wanderer hinter sich plötzlich ein heftiges Rauschen und wie er sich umdrehte, sah er, wie aus der Tiefe des Sees ein gewaltiger Baum aus dem Abgrund emporstieg. In seinem Geäst stand das verwunschene Schloss und aus dem Inneren des Schlosses war Tanzmusik und der Tanzlärm der Unbußfertigen zu hören, die drei Jungfrauen aber standen auf dem Balkon und streckten ihre Händen nach dem nächtlichen Wanderer aus und riefen ihn an, er solle sie erlösen.

Alle 70 Jahre geschieht es, so erfuhr ich, dass das verwunschene Schloss für eine Stunde zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens aus der Tiefe des Sees aufsteigt, im Geäst eines spukhaften Baumes. Jetzt, in dieser Nacht, war die Zeit wieder um! Aber der Alte aus Obersinn, der um diese Stunde hier vorüber gekommen war, dies alles gesehen hatte, floh gegen Obersinn und stieß einen Fluch gegen die drei Jungfrauen aus, das ganze Tal klagte und das Schloss versank von neuem! O Gott, welche Not!

Da sagte der alte Mann, der das erlebt hatte, er habe die drei Jungfrauen nicht verfluchen wollen, er habe es wider Willen tun müssen, er sei doch ein sehr sündhafter Mensch, aber ich, das Knäblein, solle mich vor Sünden bewahren, vielleicht sei ich bestimmt, wenn das Schloss in der Sünfte sich wieder im Wipfel eines Baumes zeige, das erlösende Wort der verzeihenden Liebe zu sprechen! Dann fänden die drei Jungfrauen Ruhe und das Schloss in der Sünfte zerfalle in Asche.

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Autor: Prof. Dr. Leo Weismantel
Texterfassung: Hermann Winkler, Sören Winkler, Lioba Zieres

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